Rothenburg, 07.05.2024 - Der TCM Kongress Rothenburg hat in diesem Jahr den Schwerpunkt „Shen und Psyche | Herz-/Kreislauf-Erkrankungen“ und schlägt damit thematisch einen großen Bogen. Viele sehr unterschiedliche Kongress-Angebote befassen sich mit einem Thema zu diesem Schwerpunkt. Dr. Uwe Siedentopp, Arzt für Naturheilverfahren, Akupunktur und Chinesische Medizin und Ernährungswissenschaftler aus Kassel bietet eine ganztägige Veranstaltung zu „Akupunktur und Diätetik bei Schlaf- und Herz-/Kreislaufstörungen“ an. Im Interview erläutert er, wie westliche und Chinesische Medizin zusammenpassen und sich sinnvoll ergänzen.
Frage: Sie bieten beim Kongress eine ganztägige Veranstaltung zu „Akupunktur und Diätetik bei Schlaf- und Herz-/Kreislaufstörungen“ an und vereinen schon im Titel westliche und Chinesische Medizin. Wie passen diese beiden sehr unterschiedlichen Medizinsysteme zusammen?
Dr. Uwe Siedentopp: Nur auf den ersten Blick erscheinen die beiden Medizinsysteme unterschiedlich. Die moderne westliche Medizin basiert auf naturwissenschaftlichen Überlegungen, die mittels Untersuchungen und Studien überprüft, ergänzt oder verworfen werden. Das traditionelle System der Chinesischen Medizin gründet auf langwierigen Beobachtungen und Erkenntnissen, die über Jahrtausende gewonnen, erweitert und bis heute angewendet werden. Dieses Erfahrungswissen wird von der heutigen Medizin und den Biowissenschaften in seinen Wirksamkeiten immer mehr überprüft. Dabei bestätigen wissenschaftliche Untersuchungen und Studien mittlerweile zahlreiche erfahrungsmedizinische Angaben klassischer TCM-Methoden. Westliche und Chinesische Medizin stehen sich also keinesfalls widersprüchlich gegenüber. Gemeinsam bieten sie eine hervorragende Basis für eine moderne Komplementärmedizin, die bei chronischen und funktionellen Erkrankungen besonders wirkungsvoll ist.
Was haben Schlafstörungen und Herz-/Kreislaufstörungen gemeinsam?
Dr. Uwe Siedentopp: Falls keine organisch-strukturellen Ursachen vorliegen, handelt es sich in beiden Fällen um funktionelle Störungen. Diese schränken den Alltag und die Lebensqualität der Betreffenden zum Teil erheblich ein. Unser moderner Lebensstil trägt wesentlich dazu bei, dass die Inzidenz von Schlaf- und Herz-/Kreislaufstörungen weltweit immer mehr zunimmt.
Wie unterscheidet sich die Sichtweise der westlichen und die der Chinesischen Medizin auf Schlafstörungen und Herz-/Kreislaufstörungen? Was verbindet sie?
Dr. Uwe Siedentopp: Bei Schlaf- und Herz-/Kreislaufstörungen handelt es sich aus westlicher Sicht um Erkrankungen mit Veränderungen unserer natürlichen Biorhythmen. Moderne Umwelt-, Lebensstil- und Ernährungsfaktoren führen zunehmend zu einer Desynchronisation unserer inneren biologischen Taktgeber. Chronobiologische Untersuchungen zeigen deutlich die engen Wechselwirkungen zwischen Essen, Schlaf und Herz-/Kreislauffunktionen. In der chinesischen Medizin lassen sich Schlaf- sowie Herz-Kreislaufstörungen dem Herzen und dem Geist Shen zuordnen. Neben physischen Kriterien spielen auch psychische Aspekte eine wesentliche Rolle bei diesen funktionellen Störungen.
Die steigende Inzidenz verlangt nach integrativen Konzepten mit einem physisch-psychisch-biosozialen Ansatz. Die TCM bietet entsprechende, bewährte Behandlungsmethoden, die westliche Therapieverfahren wirkungsvoll unterstützen und ergänzen.
Wie funktionieren integrative Therapiekonzepte bei Schlaf- und Herz-/Kreislauf-Störungen? Welche Therapien werden dabei kombiniert und wie ergänzen sie sich?
Dr. Uwe Siedentopp: In Abhängigkeit von Ursache, Dauer und Intensität der Störungen sowie den Bedürfnissen der Patient:innen werden ein oder mehrere Verfahren der westlichen und Chinesischen Medizin ausgewählt. Nach Ausschluss von Kontraindikationen und Patient:innenaufklärung wird ein zeitlich und inhaltlich definiertes, integratives Therapiekonzept festgelegt. Zum Einsatz kommen je nach individueller Situation Kombinationen aus westlicher Medikation oder Phytotherapie, Stressmanagementverfahren, Entspannungstechniken, chinesische Arzneitherapie, Akupunktur, Qi Gong sowie Ernährungstherapie und chinesische Diätetik. Bewährt haben sich Kombinationen aus aktiven und passiven Behandlungsformen. Werden die Betreffenden aktiv durch eigenes Zutun und Handeln in die Therapie eingebunden, erhöht sich die Compliance und der Behandlungserfolg verbessert sich.
Wie wirken Akupunktur und chinesische Diätetik bei diesen Erkrankungen? Gibt es Studien, die die Wirksamkeit belegen?
Dr. Uwe Siedentopp: In der chinesischen Medizin wird mittels Befragung, Untersuchung, Zungen- und Pulsdiagnose ein individuelles Syndrommuster erstellt. Dabei finden sich Fülle- oder Leere-Störungen, energetische Ungleichgewichte von Yin und Yang, Qi, Blut, Körpersäften oder Geist Shen. Die Akupunktur wirkt über die zugehörigen Körperpunkte sowie die adäquate Nadeltechnik. In der chinesischen Diätetik wirken Lebensmittel über quantitative Qualitätsmerkmale wie Temperaturverhalten, Geschmacksrichtung und Organbezug. Zudem lassen sich über küchentechnische Verfahren bei der Zubereitung ihre Wirkqualitäten zielgerichtet verändern. Auch hier dient das ermittelte Syndrommuster immer als Basis für eine individuelle Ernährungsberatung und -therapie.
Eine Pubmed-Recherche von 2020 (M. Bijak, Deutsche Zeitschrift für Akupunktur 63 (4), 229-232) zeigt Metaanalysen für Akupunktur bei Insomnie aus den letzten zwanzig Jahren. Dabei wird in über 280 Studien über positive Effekte und gute Wirksamkeiten berichtet. Auch bei Herz-Kreislaufstörungen gibt es zahlreiche Studien zur Wirksamkeit der Akupunktur. Bei Bluthochdruck und Regulation der Herzfrequenz kann sie gut helfen. Die wissenschaftliche Evidenz ist derzeit aber insgesamt noch gemischt. Hier ist noch weitere Forschung erforderlich.
Zur chinesischen Diätetik gibt es aktuell leider nur Erfahrungsberichte. Die Komplexität beim Design klinischer Studien macht es kaum möglich, kausale Zusammenhänge einzelner Nahrungsfaktoren herauszuarbeiten. Zudem gibt es kein kommerzielles Interesse an Ernährungsstudien, da mit gesundem Essen kein Geld verdient werden kann. Es gibt aber inzwischen zahlreiche Untersuchungen zu einzelnen Lebensmitteln, die TCM-Indikationen und Wirkqualitäten aufgrund nachgewiesener Inhaltsstoffe nach westlichen Kriterien gut belegen.
Welchen Vorteil haben Patient:innen, wenn sie sich einer solchen integrativen Therapie unterziehen?
Dr. Uwe Siedentopp: Der größte Vorteil liegt darin, dass Patient:innen durch eine integrative Therapie das Beste aus zwei Welten für sich nutzen können. Modernes naturwissenschaftliches Medizin-Know-how in Kombination mit Jahrtausende altem Erfahrungswissen der TCM bietet eine perfekte Individualmedizin. Universitäts- und Erfahrungsmedizin sind absolut kein Widerspruch, sondern eine mehr als sinnvolle Ergänzung. Insbesondere Menschen mit chronisch funktionellen Erkrankungen profitieren in hohem Maße davon.